Rezension – Der Unterwasser-Schweißer (Hinstorff)

Marcel Scharrenbroich wirft einen Blick auf Jeff Lemires “Unterwasser-Schweißer”. Wie immer ein sehr informativer, interessanter, ausführlicher und schön geschriebener Blick auf einen Comic der besonderen Art.

(©Top Shelf Productions, erschienen bei Hinstorff)

Deutscher Titel: Der Unterwasser-Schweißer
Verlag Deutschland: Hinstorff
Verlag Original: Top Shelf Productions
Format:
 Broschur
Sprache: Deutsch
Erscheinungsdatum: 01.03.2017
Autor(en): Jeff Lemire
Zeichner: Jeff Lemire

Seiten: 224
Preis: 18,99 €
Leseprobe: Hinstorff
Bezug: Hinstorff


(©Top Shelf Productions)

„Underwater Love“

Der kanadische Autor und Zeichner Jeff Lemire liefert mit seinem Comic-Buch „Der Unterwasser-Schweißer“ ein persönliches, tiefgründiges und auch sehr bewegendes Werk ab… und da kann sich eine gewisse, aus der TV-Landschaft bekannte, blondgefärbte Madame, die vorzugsweise bonbonbunte Overalls trägt und sich kurz nach der Erfindung des Farbfernsehens mit Vorliebe cremige Torten in die Visage pfeffern ließ, auf den Kopf stellen, rückwärts „La Paloma“ pfeifen und wild mit den Armen im Takt zu Freddy Quinns größten Hits rudern!
Man muss auch nicht männlich sein, um das Buch zu mögen und schon gar nichts mit Schweißen am Helm haben, um die Geschichte auf sich wirken zu lassen. Dass die gute Frau in ihrem Leben zu viele Geschichten über trinkende Väter gelesen hat, sollte man nicht dem Autor ankreiden… und schon gar nicht in einem anmaßenden Ton, unterlegt mit diverser Fäkalsprache.
Wenn man sich dann noch ordentlich über die Zeichnungen von Mr. Lemire auslässt, die ich (wenn ich meine bescheidene Meinung kurz äußern darf) als Stilmittel sehe und für passend und dem Inhalt angemessen erachte, beschlägt mir beim Kopfschütteln der Taucherhelm.
Verzeihung,… aber den Dampf musste ich erstmal kurz ablassen.
Kurz nach dem Beenden von „Der Unterwasser-Schweißer“ las ich mir neugierig die verschiedensten, meist sachlichen und treffenden Rezensionen durch und stieß so auch auf ein Video von oben genannter Dame, die in einer Gesprächsrunde mit zunehmender Begeisterung den Comic Panel für Panel genüsslich zerpflückte.
Wenn man die Zeichnungen als „Punkt-Punkt-Komma-Strich“ bezeichnet und sich schon vorher groß auf den Zettel „Was für Männer!“ schreibt, ist an eine sachliche Kritik nicht mehr zu denken und man sollte sich überlegen, ob man das richtige Format gewählt hat. Punkt.
Ich bitte nochmals um Verzeihung, denn ich möchte natürlich jedem seine Meinung lassen. Wem das Buch nicht gefällt… okay! Wem die Zeichnungen nicht zusagen… okay! Wen die Thematik nicht interessiert… auch kein Ding! Allerdings macht der Ton die Musik und die Art und Weise der Kritik halte ich dem Künstler gegenüber für unfair und anmaßend. Vielleicht reagiere ich über, aber die tragische Geschichte über Verlust und Ängste hat mich auf einigen Ebenen persönlich berührt und meine Eindrücke zu diesem kleinen Meisterwerk… ja, Meisterwerk… möchte ich gerne mit Euch teilen.

Frei sein… frei von allen Sorgen und Ängsten… einfach loslassen, sich treiben lassen. Dieses Gefühl erlebt Jack Joseph, ein von Zweifeln geplagter, werdender Vater nur bei der Ausführung seines Berufes (oder seiner Berufung?). In einer kleinen, recht trostlosen Küstenstadt in Neuschottland geht Jack seiner Arbeit als Unterwasser-Schweißer auf -besser gesagt „unter“- einer Ölplattform nach. Damit trat er in die Fußstapfen seines Vaters, der bei einem Tauchgang sein Leben verlor, was Jack seit seiner Kindheit nicht überwinden konnte. Sein liebevoller, aber trinkender Vater ließ ihn im Stich. Nicht zum ersten Mal… aber es sollte das letzte sein.
Frei sein… abtauchen und den Gedanken hinter sich lassen, ob er das für seine eigene kleine Familie sein kann, was ihm als Kind verwehrt blieb. Ein guter, verlässlicher Vater. Ein guter, verlässlicher Ehemann. Frei sein…
Bei einem erneuten Fluchtversuch aus der Realität, einem rettenden Sprung in die vertraute, maritime Märchenwelt, macht der Unterwasser-Schweißer eine Entdeckung, die ihn mit dem Trauma seiner Kindheit konfrontiert und sein Leben für immer verändern wird.

Der vor allem als Autor begnadete Jeff Lemire startete seine Comic-Karriere 2005 mit dem selbstveröffentlichtem „Lost Dogs“, das ihm viel Beachtung und einen Vertrag mit Top Shelf Productions einbrachte. Dort wurde auch seine hochgelobte „Essex County“-Trilogie, die ihm jeweils eine Harvey- und Eisner-Award-Nominierung einbrachte, veröffentlicht. Bei uns erschienen die drei enthaltenen Bände „Geschichten vom Land“, „Geister Geschichten“ und „Die Krankenschwester“ zwischen 2010 und 2012. Beim DC-Imprint Vertigo folgten “The Nobody” und die beliebte Reihe “Sweet Tooth“. Neben mehreren Arbeiten für DC schrieb Lemire unter anderem die hochgelobten Runs von „Old Man Logan“ und „Moon Knight“ für Marvel, während er aktuell weiterhin an „Descender“ und „Black Hammer“ arbeitet. Letzterer wird auch bei uns heiß erwartet und startet in diesem Jahr im Splitter Verlag, wo er gut aufgehoben sein dürfte. Langeweile dürfte beim vielbeschäftigen Kanadier also auch in Zukunft nicht aufkommen.

Damon Lindelof, einer der kreativen Köpfe hinter der Mystery-Erfolgs-Serie „Lost“ und Drehbuchautor zu Ridley Scotts „Alien“-Prequel „Prometheus“, verfasste ein Vorwort für seinen Landsmann Lemire und verglich seine Graphic Novel recht treffend mit der TV-Serie „The Twilight Zone“. Auch dort stand der Mystery-Aspekt Folge für Folge im Vordergrund und der Zuschauer wurde in abgeschlossenen Episoden mit unerklärlichen Vorkommnissen konfrontiert. So weit, so gut… doch würde eine x-beliebige Serienfolge, die man schnell mal nebenbei konsumiert, dem „Unterwasser-Schweißer“ nicht gerecht. Die skizzenhaften Zeichnungen von Jeff Lemire ziehen den Leser, trotz aller (auf den ersten Blick) Einfachheit viel tiefer in die Geschichte, als es ein filmisches Pendant, speziell mit limitierter Serien-Laufzeit, je könnte. Ich will nicht behaupten, dass es unmöglich wäre, den Stoff auf Film zu bannen, denn immerhin hat Schauspieler („Stay“, „Drive“, „Only God Forgives“) und Regisseur („Lost River“) Ryan Gosling großes Interesse, die Geschichte von Jack Joseph auf die Leinwand zu bringen. Ob ihm dieses Vorhaben gelingt, wird sich (hoffentlich) zeigen, denn bis auf einen anvisierten Starttermin im Jahr 2020 ist es seit der Ankündigung einer Adaption im März 2017 erstaunlich still um das Projekt geworden. Hoffen wir, dass der gute Jack nicht in der Development Hell um sein Leben planscht und uns Hollywood trotz Superhelden- und Fortsetzungs-Overkill vielleicht mal mit einem risikofreudigeren Projekt, abseits des 3D-Krach-Bumm-Kinos überrascht.
Wie bereits gesagt, sind die Zeichnungen im ersten Moment vielleicht gewöhnungsbedürftig und wirken etwas… nun ja, speziell… aber bereits nach wenigen Seiten mochte ich diese unförmigen Karikaturen, die ungelenk, ja teilweise deformiert wirkten, nicht mehr missen! Detaillierte Charaktere, kräftige Farben, eventuell sogar überladene, unübersichtliche Panels hätten möglicherweise sogar den gegenteiligen Effekt gehabt, denn so konnte ich trotz aller Schlichtheit und Skepsis sehr schnell in diese trübe und kahle Welt einsteigen, die durch ihren harten schwarz/weiß-Kontrast besticht und mit einem weichen Wandel in Grautöne überrascht, sobald sich Jack in seine nautische Zuflucht rettet. Dieser strikte Farbwechsel macht es dem Leser leicht, in die vermeintlich „heile“ Welt des Protagonisten „abzutauchen“ und man entwickelt ein Verständnis für seine tragische Figur.

The Underwater Welder“, wie Jeff Lemires Graphic Novel im Original heißt, wurde bereits im Jahr 2012 von Top Shelf Productions auf den Markt gebracht. In Deutschland erschien der 224 Seiten-starke Comic-Roman im März 2017 im Rostocker Hinstorff Verlag als optisch einwandfreie Taschenbuch-Variante. Der bereits 1831 gegründete, norddeutsche Verlag befasst sich seit den 60er-Jahren mit der maritimen Thematik und neben Graphic Novels wie „Der Fluch der Piratenbraut“ und der „Im Eisland“-Reihe ist Lemires „Unterwasser-Schweißer“ dort in guter und passender Gesellschaft.