Rezension zu Sonnenstein (Panini Comics)

Gastautor Marcel Scharrenbroich hat sich für euch mal den Comic “Sonnenstein” aus dem Hause Panini angesehen. Wie sein Fazit zum ursprünglich kroatischen Webcomic ausfällt, lest ihr im folgenden Text.

(©Top Cow, erschienen bei Panini Comics)

Deutscher Titel: Sonnenstein 1
Umfang: Sunstone 1
Verlag Original:Top Cow
Verlag Deutschland: Panini Comics
Format: Hardcover
Sprache: Deutsch
Erscheinungsdatum: 17.11.2015
Autor(en): Stjepan Šejić
Zeichner: Stjepan Šejić

Seiten: 132
Preis: 24,99 €
Leseprobe: MyComics
Bezug: Panini Comics


 

Fifty Shades of… Red?

Um einen Vergleich zu der überaus populären Roman- und bald auch Film-Trilogie „Fifty Shades of Grey“ komme ich nicht herum… dies ist so klar, wie das errötete Gesicht einer sonntäglichen Kirchgängerin beim Lesen des Klappentextes.

Da ich die gedruckte Variante der britischen Autorin E.L. James, die diese im Jahr 2009 zuerst als Fan-Fiction zu Stephenie Meyers „Twilight“-Saga im Netz veröffentlichte und nach einiger Kritik die Namen der Protagonisten änderte, nie gelesen habe und auch die Sichtung des ersten Kinofilms sich für mich schwierig gestaltete, weil… ach, was soll’s – ich fand’s beschissen und gähnend langweilig, zuweilen sogar so lächerlich und platt, dass sich Haare an Stellen aufstellten, wo vorher nie welche waren und auch nie wieder sein werden.

Ich bin deshalb mal ganz mutig, lehne mich seeehr weit aus dem Fenster (erster Stock… alles gut) und wage zu behaupten, dass die einzige Gemeinsamkeit zwischen James’ „Graustufen“ und den „Sonnenstein“-Comics von Stjepan Šejić vier simple Buchstaben sind: B, D, S und M.

Wobei… „Comics“ würde den tollen deutschen Hardcovern, in denen „Sonnenstein“ bei uns vom Panini-Verlag aufgelegt wird, fast nicht gerecht. Man könnte die edlen Bände schon eher als Graphic Novel, beinahe „Artbook mit Handlung“ beschreiben. Aber dazu später mehr…

Wo war ich? Ach ja, bei den vier Buchstaben… die anhand der Thematik auch mal ganz schnell rot werden können. Das erste, was vielen bei beim Begriff BDSM in den Sinn kommt, sind dunkle Kellerverliese, Typen mit Gasmasken (hey, das erinnert mich an die „Mayday“ in den 90ern… ach ne, die hatten ja alle weiße Handschuhe an, trugen Warnwesten und hatten ‘ne Kaffeemaschine um den Hals) und streng guckende, peitschenschwingende Damen in glänzender Verpackung. Teilweise schon richtig… wenn man nur VOR die Fassade schaut und nicht gewillt ist, über den oft zitierten Tellerrand HINAUS zu blicken.

BDSM setzt sich aus den Begriffen Bondage & Discipline, Dominance & Submission und Sadism & Masochism zusammen. Ich werde jetzt natürlich nicht auf alle Aspekte dieser sexuellen Vorlieben, rund um Machtspiele, Unterwerfung, Erniedrigung, Dom, Sub, etc. eingehen, denn das würde ohne Wenn und Aber den Rahmen sprengen, zumal diese Themen ganze Bücher füllen und ich gar nicht wüsste, wo ich ansetzen sollte. Schrifttafeln, die bis ins 9. Jahrhundert v. Chr. zurückreichen stellen beispielsweise schon diverse Praktiken dar. Vom tiefsten Mittelalter, über indianische Völker, bis zu den literarischen Werken des Marquis de Sade und Leopold von Sacher-Masoch… überall in der Geschichte ist BDSM allgegenwärtig. Da wundert es in solch aufgeklärten Zeiten eigentlich schon, dass oft nur hinter vorgehaltener Hand über diese sexuellen Neigungen und Fetische gesprochen wird… zumal ein wichtiger Aspekt unter den einvernehmlichen Handlungen das Vertrauen ist. Ja, sogar der wichtigste Aspekt! Denn egal, ob in zeitlich begrenzten Sessions oder in einer ausgelebten Beziehung, die in den Alltag übergeht, sind Vertrauen, Sicherheit und behutsame Nachsorge unabdinglich. Man fängt ja auch nicht mit dem Knüppel in der Hand an und jagt seinen Partner von jetzt auf gleich ohne Vorwarnung durch die Bude… das hat nichts mit BDSM zu tun. Es geht, wie gesagt, um das einvernehmliche (Rollen)Spiel, um das Ausloten bestimmter Grenzen und Ausleben bestimmter Fantasien. Denn mal ehrlich… wer legt fest, was normal ist und was nicht?

Doch nicht erst durch den Roman „Fifty Shades of Grey“, dem man zugutehalten muss, dass das Thema wieder präsenter in den Medien wurde und auch offen(er) diskutiert wurde, kamen Begriffe wie SM oder BDSM in den Mainstream-Medien vor – egal, ob in Musik oder Film. Künstler wie Madonna, Depeche Mode, Soft Cell, Die Ärzte, Janet Jackson, Rammstein, Umbra et Imago oder Rihanna setzten sich mit der Thematik musikalisch, teilweise auch visuell in den dazugehörigen Videoclips auseinander und in Filmen wie „Die Geschichte der O“, „Venus im Pelz“, „Blue Velvet“, „9 1/2 Wochen“, „Tokyo Decadence“, „Bitter Moon“ und „Secretary“ wird BDSM ebenfalls thematisiert. Ein aktuelleres Beispiel ist das sehenswerte Drama „My Mistress“.

(©Top Cow, erschienen bei Panini Comics)

In der Literatur schon seit Jahrhunderten fester Bestandteil und auch in gezeichneter Form schon in anderen Werken vertreten, widmet sich der kroatische Künstler Stjepan Šejić dem -BDSM-Thema und das mit Charakteren, die einem sofort ans Herz wachsen.

Die Handlung um zwei junge Frauen, die sich nach anfänglicher „virtueller“ Bekanntschaft auch im wahren Leben treffen, um ihre Fantasien miteinander auszuleben, passt eigentlich auf die Rückseite eines Bierdeckels… aber das ist auch nur der Aufhänger für eine sehr interessante, fesselnde(!) und tiefer gehende Geschichte, die viel, viel mehr zu bieten hat, wenn man sich erstmal reingelesen hat. Dies geht glücklicherweise auch erstaunlich schnell, da Šejić es schafft, dem Leser die Charaktere auf unglaublich sympathische Art und Weise näher zu bringen. Jeder, egal ob Männlein oder Weiblein, kann sich in die Aufregung und die Gedankengänge vor einem ersten Date hineinversetzten… den BDSM-Aspekt mal ganz außen vor gelassen. Was ziehe ich an? Wie spreche ich sie/ihn an? Was, wenn ich plötzlich pinkeln muss?

Ja, ja… all diese Fragen stellt sich auch Lisa Williams vor ihrem ersten „realen“ Treffen mit Online-Freundin Allison „Ally“ Carter, die die devot veranlagte junge Autorin erst vor zwei Monaten in einem Chat der „etwas härteren Gangart“ kennengelernt hat. Die dominante Software-Entwicklerin Ally übt einen bisher unbekannten Reiz auf die unschuldig wirkende Lisa aus, was ihr neu ist und sie zudem verunsichert. Trotz keinerlei gleichgeschlechtlicher Vorgeschichte einigen sich beide auf ein erstes Aufeinandertreffen und als Leser kann man das Kennenlernen der Protagonistinnen gar nicht erwarten. Angespannt wie bei einem Thriller folgte ich den Vorbereitungen und Gedankengängen der Ladys und Stjepan Šejićs Art das Ganze zu verpacken ist einfach großartig und extrem humorvoll. Dass es sich nicht um ein einmaliges Treffen zwischen Lisa und Ally handelt dürfte klar sein, sonst wäre dies eine ziemlich kurze Geschichte. Neben den heißen Begegnungen zwischen den beiden, die sehr sexy und ansprechend in Szene gesetzt sind, folgen wir ihnen aber auch durch ihren gewohnten Alltag und lernen das Umfeld von Ally und Lisa besser kennen. So treffen wir natürlich auch viele, ihnen nahestehende Personen, was zu bewegenden aber auch extrem humorvollen Momenten führt, die der Künstler ebenso perfekt beschreibt und bebildert, wie die erotische Komponente, die natürlich nicht zu kurz kommt und uns teilweise auf Doppelseiten am Liebespiel teilhaben lässt. Vor allem das perfekte Timing und die treffsichere Situationskomik lockern die Geschichte ungemein auf und bringen dem Leser die Figuren mit ihrer realistischen Mimik und Gestik sehr nah.

Šejićs Zeichnungen sind schlichtweg brillant und die großartige Kolorierung lässt einen des Öfteren für mehrere Minuten auf einer einzelnen Seite verweilen. Die vorherrschende Farbe Rot in seinen Zeichnungen zieht sich (Achtung) wie ein roter(!) Faden durch die Panels und trifft uns nicht nur bei Lisas Haupthaar, sondern schon beim wunderbar gestalteten Cover und auch bei der ausgefallenen Kleidung und diversen „Spielzeugen“ unserer Damen. Sonst wird auf knallige Farben verzichtet, was dem Ganzen einen realistischeren Anstrich verleiht.

Der 1981 in Kroatien geborene Autor und Zeichner plante erst gar nicht „Sonnenstein“ (orig. „Sunstone“) als physische Variante zu publizieren, da die ganze Geschichte um Lisa und Ally ihren Anfang auf der Künstlerplattform DeviantArt nahm. Dort veröffentlichte Šejić immer wieder „aussagekräftige“ Momente aus dem Leben der beiden und nach großem Zuspruch kam eines zum anderen und es wurde eine Geschichte für das BDSM-Pärchen auf Papier gebracht. Tatkräftig unterstützt wurde der Künstler dabei von seiner Ehefrau Linda Luksic Šejić, die sich ebenfalls der (hauptsächlich digitalen) Kunst verschrieben hat und mit „Blood Stain“ ihren eigenen Webcomic am Start hat. Auch sie ist auf DeviantArt mit sehenswerten Arbeiten vertreten. Ihr Gatte kann schon auf eine lange Karriere bei Top Cow Productions und Image Comics zurückblicken. Von 2007 bis 2011 hatte er ein Rendezvous mit „Witchblade“ und auch „Death Vigil“, „Aphrodite IX“ und „Ravine“ gehen auf sein Konto. Für die beiden „Großen“ im Ring, DC und Marvel, zeichnet er sich für etliche Cover verantwortlich, während er für ersteren Verlag auch an der „Suicide Squad“ arbeitete und für den aktuellen „Aquaman“-Run in den USA am Ruder sitzt.

Bei uns in Deutschland wird „Sonnenstein“, wie bereits eingangs erwähnt, seit 2015 von Panini herausgebracht. Bisher brachte es die Reihe auf vier prächtige Hardcover-Bände im Albumformat und die fünfte Begegnung mit Lisa und Ally steht schon in den Startlöchern und soll Anfang 2018 erscheinen. Bisher konnte jeder Band sowohl inhaltlich, als auch optisch voll überzeugen. Der Druck ist hervorragend und im hinteren Teil befindet sich zudem noch Bonusmaterial, wie Skizzen und ein Making-Of. Schöner und qualitativ hochwertiger kann man einen vermeintlichen Nischen-Titel nicht veröffentlichen. Einen großen Dank an Panini, die hier alles richtig gemacht haben!

Abschließend kann ich „Sonnenstein“ jedem empfehlen, der aufgeschlossen dem Neuen und Anderen gegenüber ist. Platt gesagt handelt es sich hier zwar um eine Liebesgeschichte… ja, eine „Schnulze“, wenn man so will, AAAAABER… eine romantische Story mit pointiertem Witz, unglaublich tollen und sympathischen Charakteren UND fantastischen, fast schon realistischen Zeichnungen. Ach ja… um SEX geht es auch noch!

Wer also interessiert ist, einen realistisch(er)en Blick auf die BDSM-Szene zu werfen und zu sehen, dass es sich nicht nur um „Perverse“ oder „Sex-Nerds“ handelt, sondern dass es auch dort um Verantwortung, Zweisamkeit, Gefühle und Liebe geht, sollte unbedingt mal einen Blick riskieren. Wem Mr. Grey zu schmalzig ist und Ms. Steele zu mauerblumig (hmm… ich überlege, mir diesen Begriff patentieren zu lassen), der ist auf jeden Fall auch an der richtigen Adresse.